Montag, 21. Mai 2007

Treppenwitz

"Die Kinder lesen nicht mehr. Das ist eine Katastrophe. Das muss sich ändern. Das stimmt zwar alles. So richtig neu sind die Erkenntnisse allerdings nicht. Dass sie jetzt der PEN-Präsident Johano Strasser öffentlich kundtat, macht sie nicht aktueller, aber wenigstens ein bisschen brisanter, denn der Mann vertritt ja schließlich einen Club mehr oder weniger lebendiger Dichter.
Um die ganze Brisanz seiner Wortmeldung zu ermessen, schalten wir jetzt um in die späten Siebziger. Wer Klassiker liest, wer ein klassisches Musikinstrument zu lernen begehrt, macht sich höchst verdächtig in den Augen seiner Lehrer, die ungefähr dieselbe geistige Sozialisation wie Strasser ins Klassenzimmer mitgebracht hatten, aber noch jünger und noch überzeugter von dem waren, was sie nach '68 auf der Uni alles gelernt hatten. Klassisches Bildungsgut? Das brauchten wir Kinder nicht. Das roch nach Muff von tausend Jahren - über Bord mit allem Bildungsbürgertum! Also ließ man uns Kinder statt Kleist zu lesen lieber Besinnungsaufsätze schreiben (dass bei denen dann regelmäßig nicht das Deutsch, sondern die Gesinnung benotet wurde - geschenkt).
Doch auch aus diesen Kindern wurden Eltern. Erziehungsberechtigte, um im Jargon zu bleiben. Menschen, Paare, in deren Wohnungen zum Teil erschreckend wenig Bücher stehen. Menschen, Paare, denen das Lesen ebenso beigebracht werden muss wie das Kochen (durchs Fernsehen nämlich). Dass ausgerechnet Johano Strasser, mithin einer der herausragenden Vertreter der antibürgerlichen bundesrepublikanischen Kulturpolitik, diesen Zustand beklagt, ist einer der besten Treppenwitze der jüngeren deutschen Kulturgeschichte."
(Elmar Krekeler, Die Welt, 19.5.2007)

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