Auf bemerkenswerte Weise nimmt der bundespolitische Korrespondent der Weltwoche, Urs Paul Engeler, den medial gleichgeschalteten mainstream der Medien seines Landes aufs Korn und anschließend auseinander. Absolut lesenswert, da diese Mechnaismen hierzulande ebenso funktionieren. Auszüge:
"Was der tägliche Mainstream ist, möchte ich an einem Beispiel erklären. Fast auf den Tag genau vor 23 Monaten hatte ich einen Auftritt vor PR-Leuten und schlenderte nach Vortrag und Fragerunde an einem Kiosk vorbei. Die Schlagzeilen und Haupttitel, mit denen alle Zeitungen von Blick über Tages-Anzeiger, NZZ, Aargauer Zeitung, Berner Zeitung, Basler Zeitung, St. Galler Tagblatt bis Le Temps und Neue Luzerner Zeitung warben, haben mich derart beeindruckt, dass ich sie mir sofort notiert habe. Sie lauteten:
«Es braucht 50000 Krippenplätze»
«Es fehlen 50000 Krippenplätze»
«50000 Plätze in Krippen fehlen»
«Der Beweis: Es fehlen 50000 Plätze für Kinder»
«Gesucht: 50000 neue Krippenplätze»
«Il manque 50000 places en garderie»
«50000 Kinder ohne Krippenplatz»
«In der Schweiz fehlen 50000 Krippenplätze».
Mich haben zwei Dinge stutzig gemacht: erstens die Zahl von 50000 Krippenplätzen, die einer Zahl von 120000 Kindern entspricht, die angeblich nicht fremdbetreut werden können, obwohl sie sollten. Von meinem Bruder, der Gemeinderat in einer grösseren Thurgauer Gemeinde ist, wusste ich, dass eine Krippe im Hinterthurgau kürzlich hatte schliessen müssen. Grund: Kindermangel. Mir war auch noch eine Zahl von 500 angeblich fehlenden Plätzen in Bern präsent, die ich rasch auf die Schweiz hochrechnete: Nach dieser Rechnung fehlten im ganzen Land allerdings höchstens 25000 bis 30000 Betreuungsplätze.
Zweitens stiess mir die nationale Einfalt der Darstellung ohne jedes Fragezeichen auf: von NZZ über Tagi bis Blick, von St. Gallen bis Genf bis ins Detail die gleiche Litanei: 50000 fehlen, 50000 fehlen, 50000 fehlen...
Zurück in Bern, habe ich mir die Studie beschafft, die alle Medien ohne Ausnahme als neue Bibel der Betreuung gefeiert haben. Angefertigt und präsentiert hat die Untersuchung das (SP-)Beratungsbüro Infras in Zürich, bezahlt hat sie der Steuerzahler.
Ich nehme hier nicht die ganze Studie auseinander, die allein den Zweck verfolgte, die anstehende politische Debatte über die Verlängerung der Bundeshilfen an Krippen in die gewünschten Bahnen zu lenken. Die Rede ist denn auch überall vom «Ausbaubedarf», vom grossen «volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen» und von der Notwendigkeit einer «adäquaten Subventionspraxis». Die ganze wissenschaftliche Untersuchung bestand aus 600 Interviews mit Eltern, die ihre Kinder gerne fremdbetreut gehabt hätten, und einer eindimensional geführten Hochrechnung. Keine Themen waren: die Finanzen, die Kostenbeteiligung der Eltern, die Form der Betreuung. Kurz: Die ganze Nationalfonds-Studie war ein billig angefertigter Wunschkatalog: Gratis-Krippen für alle!
Auch von den Hintergründen der Studie oder möglichen Alternativen stand in keinem der Medienberichte nur ein Nebensätzchen oder nur ein Wörtchen. Und noch schlimmer: Niemand regte sich auf. Nur die Weltwoche, in diesem Falle ich, setzte einen Kontrapunkt, verwies auf den politischen Zweck der Aktion, auf den Missbrauch des Gütezeichens «Nationalfonds», auf die Mängel der Studie, auf die komplett falschen Zahlen etc."
Montag, 24. September 2007
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen