Montag, 21. Januar 2008

Wahrnehmungen

"Jetzt, da nicht deutsche Skins und Neonazis unter Verdacht stehen, sondern türkisch- und arabischstämmige Jugendliche, tönt es anders. In einem Kulturmagazin des Fernsehens bekennt ein eingeladener Experte zur Begeisterung der Moderatorin, dass er die Bilder vom vorweihnachtlichen Überfall auf einen Münchner Rentner nicht mehr sehen könne. Die Kommentatorin einer bedeutenden Hauptstadtzeitung erklärt die wiederholt ausgestrahlte Videoaufzeichnung dieses Verbrechens gar zu einem Hindernis für das, was sie sich unter einer "differenzierten, sachlichen Debatte" vorstellt. Denn, so meint sie, diese Bilder emotionalisierten die Zuschauer zu sehr, so dass sie ihr Denkvermögen ausschalteten. Wir lernen: in dem einen Fall tut grenzenlose Aufklärung not, im anderen ist fürsorgliches Beschweigen angesagt, Wegsehen eine Tugend.
Unterschieden wird auch bei der Suche nach Erklärungsmustern und bei den Schuldzuweisungen. Vorurteils- und Extremismusforscher sind sich mit vielen Leitartiklern schon lange darin einig, dass Rechtsextremismus keine Sache marginalisierter Minderheiten sei. Er habe vielmehr bereits die "Mitte" der Gesellschaft infiziert. Deshalb müssen die verdächtigen Milieus und Mentalitäten immer wieder aufs Neue untersucht, muss die extremistisch kontaminierte Mehrheitsgesellschaft mit immer ausgefeilteren Fragebögen ausgeforscht werden. So kann man dann am Fieberthermometer einer sogenannten "gruppenbezogenen Menschenfeindlicheit" jedes Jahr neue Höchstwerte ablesen."

Heribert Seifert, Deutschlandradio, 18. Januar 2008

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